Carl Reinecke diskutiert Programmvorschläge hinsichtlich Notenmaterial, Besetzung
und Qualität
Transkript
Leipzig, 12. Januar 1895
Sehr geehrter Herr Doctor!
Ich habe also die Andalousienne |(von Nicodé)|[+] wieder in’s Programm eingestellt;
wie Sie sich erinnern werden, hatte ich nur davon abzusehen gebeten, weil wir das
Material dazu erst Ende dieser Woche erhalten konnten. |?|[+] Da nun solche geschriebenen
Stimmen immer von Fehlern starren, so wäre mir keine Zeit geblieben die Stimmen zu
corrigiren wenn ich auch den ganzen Sonntag geopfert hätte. Wenn wir aber von Herrn
Nicodé selber seine bereits gespielten Stimmen geliehen bekommen (S. 257, Bl_182) so ist das ja eine andere Sache. Andernfalls können wir freilich eine heillose Probe
bekommen. Ich habe Gestern Abend mein Tageswerk mit der Ouverture der inzwischen von
Br[eitkopf] & Härtel zugesandten Stimmen beschlossen (und muß gleich damit fortfahren)
und habe meine Erfahrung bestätigt gefunden, wenn ich auf den ersten 2 Zeilen gleich
4 Fehler fand, wenn ein Takt Clarinette in die Oboe geschrieben war etc. Sie werden
fragen, warum corrigiren Sie selber und lassen das nicht von einem Musiker thun? Ja,
wenn die Partitur richtig wäre! Aber die ist auch ganz incorrect und ich muß selbstständig
beurtheilen, ob Partitur oder Stimme correct ist, oder ob Beides falsch. Uebrigens
ist die Andalousienne ein kleines 4 händiges von Herrn A. Meissner orchestriertes
Stück. Sollen wir das auf’s Programm setzen? Es sieht nicht hübsch aus und doch dürfte
man es eigentlich nicht verschleiern. Und sollen wir, außer Tambourin und Becken auch
die Castagnetten besetzen? Sie kommen mir doch gar zu ungewandhaus-mäßig vor! Wir
kommen dann nächstens auch auf’s Xylophon[+]! – Was nun die B dur (S. 258, Bl_182v) Symphonie von Schubert anlangt, so möchte ich um keinen Preis der Concert-Direction
gegenüber und in diesem speciellen Falle unserm verehrten Director Günther gegenüber
– eigensinnig erscheinen, aber Sie werden mir doch zugestehen, daß es für mich eine
schlimme Aufgabe ist ein Werk einzustudiren und zu dirigiren von dem ich fest überzeugt
bin, daß es eine ganz schwache Jugendarbeit ist, mit deren Vorführung man dem Componisten
keinen Gefallen erweist. Sämmtliche 6 unbekannten Symph[onien] von Schubert welche
ich selbstverständlich seit Jahren darauf hin geprüft, sind ganz schwach und das beste
daraus, das Andante aus der tragischen Symph[onie] ist schon im Jahre 1871 im Gewandhause
spurlos vorüber gegangen. Aber vielleicht habe ich Unrecht und das Publikum nimmt
das Werk günstig auf.
Stets Ihr hochachtungsvoll ergebener Carl Reinecke
*N.S. Soeben telephonirt mir Ehrhardt, daß an Nicodé garnicht telegraphirt worden
ist*; somit müssen die Quartettstimmen jetzt noch copirt werden, hoffentlich werden
Sie noch fertig und in nicht allzu incorrectem Zustand. D.O.*
|* weil B[reitkopf] und H[ärtel] die Stimmen liefern konnten| [+]
Umfang
2 Blätter, 3 Seiten
Bemerkung
[+] Anmerkungen und Unterstreichung mit Bleistift, vermutlich von Lampe-Vischer
Herr A. Meissner: unklar nicht eindeutig, von welcher der beiden B-Dur-Sinfonien Schuberts Reinecke spricht
