D-LEsa 1.3.5.0130.6.1832 Nr. 616
- Titel
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- 1878-09-20 Carl Reinecke an die Gewandhaus-Konzertdirektion
- Signatur
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- D-LEsa 1.3.5.0130.6.1832 Nr. 616
- Ort des Bestandes
- Bestand
- andere Nummerierung
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- Nr. 616 (S. 7, Bl_005)
- Absender
- Ort des Absenders
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- Leipzig
- Empfänger
- Ort des Empfängers
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- Leipzig
- Sprache
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- Deutsch
- Inhalt
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- Carl Reinecke argumentiert für die Vergrößerung der Besetzung des Gewandhausorchesters und verweist auf die hohe Belastung der Musiker, unter der die Qualität der Aufführungen leide
- Transkript
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- Leipzig, 20. September 1878
An die verehrliche Concert-Direction
Leipzig
Hochgeehrte Concert-Direction!
Nachdem ich erfahren, daß der von der Concert-Direction beim Rath der Stadt Leipzig eingebrachte Antrag wegen Vergrößerung des Orchester-Personals behufs der Doppelbesetzung von ersten Bläserstellen nicht berücksichtigt worden, halte ich es für meine unabweisbare Pflicht, der verehrten Concert-Direction meine auf innigste Ueberzeugung gegründete Ansicht dahin auszusprechen, daß diese Angelegenheit trotz der abschlägigen Antwort jetzt nicht ruhen darf, wenn nicht das Institut der Gewandhaus-Concerte, mindestens seine bisherige künstlerische Bedeutung, vollständig gefährdet werden soll. Die Erfahrung lehrt, daß – wie auf dem Gebiete
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der Oper die Zeitströmung nun einmal ist, gegenwärtig vorzugsweise sogenannte große Opern gegeben werden, und diese großen Opern, vornehmlich die Wagner’schen Werke, und unter diesen wieder die neuesten, absorbiren die Kräfte der Orchestermitglieder in einer solchen Weise, daß diese, wie mir eine beträchtliche Anzahl der bedeutendsten, thätigsten und willigsten unter ihnen privatim erklärt hat, in Zukunft nicht im Stande sein würden allen ihren verschiedenen Verpflichtungen nachzukommen, wenn sie im Theater in gleicher Weise in Anspruch genommen würden wie bisher, daß aber von dem ernsten systematischen Studium des Instrumentes, welches jedem Musiker täglich vonnöthen ist, um den gegenwärtig hohen Anforderungen, welche Componist, Dirigent und Publikum stellen, genügen zu können, gar nicht mehr die Rede sein könne in Folge der vollständigen Ausnutzung der Kräfte durch den täglichen Dienst.
Zur Zeit als die noch bestehenden Orchester-Verhältnisse – von den etwas gesteigerten Gagen abgesehen – gegründet wurden, waren die an das Orchester sowohl im Theater wie im Concert gestellten Forderungen so unendlich viel geringer \als jetzt/, daß es garnicht mehr möglich ist, jene früheren Einrichtungen noch heute gelten zu lassen und zur Grundlage unseres Musiklebens zu machen und ich wünsche nichts sehnlicher, als Sie davon überzeugen zu können, daß jetzt nur mit der unleugbaren Thatsache zu rechnen ist, daß die dem Orchester zugemutheten Anforderungen factisch über das Maaß [!] menschlicher Leistungsfähigkeit hinausgehen und daß Abhülfe auf alle Fälle geschafft werden muß. Wie theuer das ist, verkenne ich nicht, weil ich weiß, daß hier, wo es künstlerische Leistungen gilt, nichts mit Zahlen zu beweisen ist, weil ich weiß, daß die hier maßgebenden und wichtigen Persönlichkeiten nicht zu der in diesem Falle nöthigen Ueberzeugung gelangen \können/, daß Abhülfe vonnöthen ist, wenn sie sich lediglich auf den Rechtsboden stellen, weil ich weiß, daß kein Sachverständiger im Stande ist, zu behaupten und zu beweisen, wie viel ein Orchester quantitativ leisten kann oder nicht; denn die Leistungsfähigkeit hängt einestheils von der Individualität ab, von der mehr oder minder kräftigen Constitution, von dem mehr phlegmatischen oder sanguinischen Charakter des Musikers, anderntheils von den größeren oder geringeren Verantwortlichkeit, die auf dem Einzelnen ruht und z. B. bei dem ersten Cellisten unweit
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größer ist als beim 4t. Hornisten, hinwieder bei diesem größer als bei einem der letzten Vertreter der Geigen oder Bratschen, ferner von den Ansprüchen die der Componist an die einzelnen Instrumente macht, endlich von den Ansprüchen die Publikum, Dirigent und Kritik an die Qualität der Ausführung machen. Eine Orchesterleistung gewöhnlicher Art kann ein Musiker immer noch hinstellen wenn er schon längst nicht mehr im Stande ist eine echt künstlerische, schwungvolle und von Begeisterung getragene hinzustellen, wie wir sie im Gewandhause verlangen und, Gott sei Dank, bis dahin gewohnt waren, und ich unterfange mich, Sie, meine hochgeehrten Herren, auf’s Inständigste zu bitten, daß Sie die seltene, ich möchte fast sagen beispiellose Begeisterung, welche fast sämmtliche Orchester-Mitglieder mitbringen, wenn es gilt, im Gewandhause etwas vorzuführen, nicht um ein Tüttelchen unterschätzen mögen. Wer wie ich es weiß, wie die einzelnen Mitglieder wochenlang vorher sich auf die hervorragenden Solostellen in ihren Parthien vorbereiten, wie sie unaufgefordert zu mir auf’s Zimmer kommen um diese Parthien bei mir einzustudiren etc. der kann nur mit hoher Achtung die Männer betrachten, welche bei immerhin nur spärlichem Auskommen und ohne daß ein persönlicher Ehrgeiz dadurch befriedigt werden könnte, es so ernst mit der Kunst meinen, nicht selten unter Hintansetzung ihres körperlichen Wohles. Ich erwähne hier, daß der Gesundheitszustand im Orchester im Allgemeinen ein sehr wenig befriedigender ist und daß ich im Laufe der Saison auf einzelne Mitglieder unausgesetzt Rücksicht nehmen und dieselben von dieser oder jener Mitwirkung dispensiren muß und daß ich im Gewandhaus-Concerte schon mit fünf Aushilfs-Musikern, welche keine einzige Probe mitgemacht hatten, Aufführungen wagen mußte! Publikum und Presse erfahren von solchen Zuständen nichts, aber für mich und das Orchester bringen sie eine Aufregung hervor, von der sich ein Anderer schwerlich einen rechten Begriff macht.
Noch erwähne ich, daß von den 58 Musikern welche vor 18 Jahren bei meinem Eintritt in meine jetzige Stellung den Stamm des Gewandhaus-Orchesters bildeten zur Zeit nur noch 9 übrig geblieben sind, die Uebrigen sind gestorben oder pensionirt und nur ein kleiner Theil hat seine hiesige Stellung mit einer anderen vertauscht. Ich bin nicht Statistiker, aber ich glaube doch, daß diese Zahlen und Thatsachen laut dafür sprechen, wie sehr das Orchester angestrengt wird.
Darum, meine Herren, bitte ich Sie inständigst, nehmen Sie sich mit aller Kraft dieser Corporation an, die doch bis dahin der Stolz eines jeden Leipzigers war und erstreben Sie mit allen Mitteln und mit aller Macht, die Ihnen nur irgend zu Gebote steht, daß die trefflichen Musiker Erleichterung im Dienst finden. Sonst wird das Institut der Gewandhaus-Concerte, welches doch bis dahin wohl immer noch einen ersten Platz unter den Concert-Instituten einnahm, ohne alle Frage in seinen Leistungen tief herabsinken.
Wenn einmal Kirche, Theater und Concert ein Orchester haben und solcherweise an einander gekettet sind, so muß auch jedes einzelne Institut – meiner Ansicht nach – sich in seinen Ansprüchen an das Orchester so weit einschränken, daß die Interessen der anderen nicht schwer geschädigt werden und wenn das heutzutage nicht mehr möglich ist, nun – so müssen andere Verhältnisse herbeigeführt werden. Die Verpflichtung der Theater-Direction, am Mittwoch Morgen keine Probe, am Donnerstag Abend keine Oper anzusetzen, genügt nicht mehr, es müßte unbedingt festgestellt werden, wie viel Opern und Opernproben (und wie viel „große Opern” unter diesen) wöchentlich während der Concert-Saison stattfinden dürfen, und \wenn/ das nicht möglich ist ohne Beeinträchtigung der Interessen der Theater-Direction (welcher ich nicht den leisesten Vorwurf zu machen gewillt bin, da auch sie ihre Verpflichtungen dem Publikum und der Kunst gegenüber hat), so muß das Personal des Orchesters vergrößert werden. Es ist dies meine feste Ueberzeugung. Und wenn die sämmtlichen dabei Interessirten und Betheiligten sich von dieser dringenden Nothwendigkeit überzeugen, so dürften doch auch die Mittel zur Besoldung von noch etwa zehn tüchtigen Orchestermitgliedern in einer Stadt wie Leipzig zu beschaffen sein! Eine geringe Erhöhung der Eintrittspreise im Gewandhause würde das Publikum im Interesse des von ihm doch immer geliebten und geschätzten Orchesters schwerlich unliebsam aufnehmen, während die Direction dadurch in Stand gesetzt würde, einen namhaften Beitrag zur Besoldung dieser neu zu engagirenden Mitglieder zu liefern und wenn alsdann Kirche, Theater und Stadt ebenfalls ihren Beitrag liefern, so würde erreicht, was jetzt unbedingt noth thut und die traurigen Zustände in unseren jetzigen Orchester-Verhältnissen wären mit einem Schlage gebessert.
Verzeihen Sie, hochgeehrte Herren, wenn ich in gegenwärtigem Schreiben über meine Befugnisse hinausgegangen sein
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sollte und wenn es in seiner Fassung zu wenig geglättet erscheinen mag! verzeihen Sie es dem Musiker, der nicht gewöhnt ist, größere Schriftstücke abzufassen und verzeihen Sie es Ihrem Dirigenten, der sich hier und da vielleicht zu weit hat hinreißen lassen, weil Ihr Institut und vor Allem dessen hohe künstlerische Bedeutung ihm so unendlich nah am Herzen liegt, während ihm auch das Wohl und Wehe unserer Orchestermitglieder gleich wichtig ist, verzeihen Sie es dem, der Leipzig als seine zweite Heimath betrachtet und der da der Meinung ist, daß das Gewandhaus-Concert ein Besitzthum Leipzigs ist, welches ebensowohl die wärmste Vertretung Seitens der Stadt Leipzigs fordern darf, wie jedes andere, – ja, möglicherweise noch mehr als jedes andere, weil es vielleicht das Einzige ist, welches in seiner Art ein unicum.
Noch gestatte ich mir, darauf hinzuweisen, daß auch andere wichtige Factoren im Musikleben Leipzig’s wie z. B. der Riedel’sche Verein, der Bach-Verein, die Sing-Akademie, der akademische Gesang-Verein Paulus doch auch eine künstlerische Berechtigung haben auf die Mitwirkung unseres Orchesters in ihren Concerten Anspruch zu machen; wie aber wird das in Zukunft möglich sein, wenn dasselbe sich schon außer Stande sehen sollte seinen contractmäßigen Verpflichtungen gegen
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Theater und Concert nachzukommen!
Und so schließe ich mit der ergebensten Bitte, daß Sie mein Gesuch um Abhülfe gütigst in ernsteste Erwägung ziehen und geneigtest bedenken und bei etwaigen Verhandlungen betonen wollen, daß – wie schon erwähnt – in diesem Falle es nicht genügen wird, wenn man sich ausschließlich auf den Rechtsboden stellt, Contracte, Statuten etc. in Erwägung zieht, sondern daß hier mit unabweisbaren Thatsachen zu rechnen ist und daß Humanität walten muß und daß künstlerische Leistungen, die wir ja verlangen, ganz eigener Art sind, daß diese ohne Frische und Elasticität des Körpers, ohne Begeisterung und sogar Selbstaufopferung nicht zu erreichen sind.
Indem ich mich Ihnen schließlich in jeder Weise zur Verfügung stelle, falls Sie bei den Debatten über diesen Gegenstand meine Anwesenheit verlangen oder in irgend welcher Weise meine Arbeitskraft in Anspruch nehmen wollen, verbleibe
in ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ganz ergebener
Carl Reinecke
- Leipzig, 20. September 1878
- Umfang
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- 4 Blätter, 5 Seiten
- Bemerkung
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- Der Brief enthält ausgiebige Markierungen, Unterstreichungen etc. von anderer Hand.
- Datum
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- 20.09.1878
- Personenreferenz
- Schlagworte
- Bearbeiter
-
- mayer
- Bearbeitungsstatus
-
- fertig
- Statische URL
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