Carl Reinecke bittet anlässlich seines 30. Jahres als Gewandhaus-Kapellmeister um
eine Gehaltserhöhung
Transkript
Leipzig, 26. April 1889
Hochgeehrte Herren!
Nun, da ich im Begriffe stehe, in das 30st. Jahr meiner Wirksamkeit als Dirigent der
Gewandhaus-Concerte einzutreten, darf ich mir nicht verhehlen, daß für mich die Jahre
nahen, in denen es mir schwerer werden wird als bisher, neben meiner officiellen Thätigkeit
auch ferner den enormen Privatfleiß aufzuwenden, der bis dahin nöthig war, um den
Forderungen, die das Leben an mich stellt, gerecht zu werden. Dies ist der Grund,
der mich veranlaßt, die geehrte Concert- (S. 66, Bl_038) Direction hiedurch um eine Erhöhung meines bisherigen Gehaltes ergebenst zu ersuchen.
Motiviren möchte ich mein Gesuch ferner durch den Hinweis darauf, daß – während das
Geld im Werthe gesunken – mit den Jahren, und namentlich seit Eröffnung des neuen
Gewandhauses die Ansprüche an meine Thätigkeit sich gesteigert haben, insofern als
die Extra-Proben, welche in früheren Jahren Ausnahmen waren, jetzt regelmäßig stattfinden,
als ferner die Instrumental-Solonummern früher vom Concertmeister dirigirt wurden,
während die Direction dieser Sachen seit vielen Jahren mir auch zugefallen ist, als
endlich die Chor-Aufführungen seit Eröffnung des neuen Gewandhauses mehr in den Vordergrund
getreten sind, so daß ich in den letzten Jahren nicht selten wochenlang fast alltäglich
Chor-Proben zu halten hatte, überdies zu den meisten Chor-Werken noch eine Orgelstimme
schreiben muß. Motiviren möchte ich mein Gesuch endlich dadurch, daß ich thatsächlich
weniger gut honorirt werde als die Mehrzahl meiner Herrn Collegen. Nach soeben persönlich
eingezogener Erkundigungen zahlt Bremen seinem Dirigenten für 12 Concerte (ohne ihm
irgend eine Verpflichtung anderer Art aufzuerlegen) 7000 M., Cöln für zehn Concerte
(die sich aber bis auf 12 steigern dürfen) desgleichen 7000 M und hat sich außerdem
zu einer bedeutenden Pension verpflichtet. Der Dirigent hat den Chor zu leiten, wird
aber für die Kammermusiken besonders honorirt; Breslau zahlt seinem Dirigenten 6000
M. für 12 Concerte, ohne irgend etwas Anderes von ihm zu verlangen, Frankfurt a/M
zahlt für 12 Concerte 4500 M. und honorirt außerdem den Klavierspieler, welcher die
Begleitung der Lieder etc. ausführt. Barmen (S. 67, Bl_038v) honorirt seinen Dirigenten mit 3800-4000 M. wofür derselbe 6 Concerte (darunter 3
Orchest[er-]Concerte) mit dem Chor-Verein zu leiten hat. Da mein Gehalt (die in den
letzten Jahren gütigst gewährte Gratification eingerechnet) 5400 M. beträgt, wofür
ich 22 Gewandhaus-Concerte und die Passionsmusik zu dirigiren und in den Kammermusiken
mitzuwirken habe, während ich 25 Jahre hindurch auch als Solist alljährlich auftreten
mußte, so erhellt daraus, daß ich nicht allein relativ, sondern in manchen Fällen
auch positiv der mindest honorirte von allen Dirigenten der namhaften Concert-Institute
Deutschlands bin und somit darf ich vielleicht hoffen, daß die Concert-Direction mich
jetzt, nach so langjähriger Wirksamkeit, meinen Collegen einigermaßen gleichstellen
werde.
In ausgezeichneter Hochachtung ganz ergebenst Carl Reinecke
|Zur vorläufigen Kenntnisnahme an Herren Collegen gesandt. 27/4/89 Limburger|
